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Häufige Zahnerkrankungen beim Hauskaninchen

Das Kaninchen spielt nicht nur als Rassetier, sondern auch als Heim- und Haustier in der jetzigen Gesellschaft eine wichtige Rolle. Besonders bei den Kindern erfreuen sich Kaninchen nach wie vor uneingeschränkter Beliebtheit. Die Kinder lernen dabei, Verantwortung zu übernehmen. Die Kosten für Anschaffung und Unterhalt sind überschaubar.

Die Zahl der Kaninchen als Patienten in der Kleintierpraxis steigt zumindest in den größeren Städten stetig an. Dabei stellen Zahnerkrankungen eine der wichtigsten Erkrankungsgruppen dar.

Anatomische und physiologische Grundlagen

Die Kaninchen zählen zu den Lagomorphen (Hasenartigen). Bereits zur Geburt haben die Kaninchen ein Milchgebiss. Der Zahnwechsel zum bleibenden Gebiss erfolgt in der 3. bis 5. Lebenswoche.

Das bleibende Gebiss hat im Oberkiefer vier Schneidezähne (Incisivi), davon fungieren zwei als sogenannte Stiftzähne. Dies ist ein Hauptunterschied zu den Nagetieren (z.B. Meerschweinchen, denn diese haben nur zwei Schneidezähne im Oberkiefer). Im Unterkiefer finden wir nur zwei Schneidezähne. Die sichtbaren Anteile der Schneidezähne des Ober- und Unterkiefers sind beim Kaninchen physiologisch betrachtet gleich lang. Die Zähne des Kaninchens haben eine weiße Farbe und besitzen angedeutete Längsrillen.

Die Kaninchen haben im Oberkiefer auf jeder Seite sechs Backenzähne (drei Prämolaren und drei Molaren). Im Unterkiefer finden wir je Seite fünf Backenzähne (zwei Prämolaren, drei Molaren). Das Kaninchen hat keine „Eckzähne“ (Fangzähne, Canini) wie etwa Hunde. Die Gesamtzahl der Zähne eines Kaninchens beträgt somit 28 (Zahnformel: I2C0P3M3/I1C0P2M3 x 2 = 28 Zähne).

Alle Zähne des Kaninchens wachsen zeitlebens. Die Zähne des Kaninchens wachsen im Unterkiefer 1,1 bis 1,8 mm/Woche, im Oberkiefer 1,3 bis 1,7 mm/Woche. Sie sind nicht wie z.B. beim Hund mit dem zahnumgebenden Bindegewebe verwachsen.

Die Stellung der Schneidezähne entspricht einem „Scherengebiss“. Hinter den vorderen Oberkieferschneidezähnen stehen die sogenannten Stiftzähne. Die unteren Schneidezähne beißen nun genau hinter den Oberkieferschneidezähne und vor den Stiftzähnen ein. Somit beißen die Oberkiefer- und Unterkieferschneidezähne nicht direkt aufeinander. Die Schneidezähne sind allseitig mit Zahnschmelz (einer sehr harten Zahnsubstanz) bedeckt, an der Zungenseite allerdings nur sehr dünn. Die Schneidezähne werden meißelartig abgeschliffen.

Die Backenzähne stehen gerade aufeinander. Bei Kaninchen wird nicht zwischen Zahnwurzel und Zahnkrone unterschieden. Die Backenzähne sind auch im Zahnfach von einer Schmelzschicht umgeben, was zur Bezeichnung „wurzellose Zähne“ führte.

Die Abnutzung der Kaninchenzähne erfolgt in erster Linie durch die Reibung an den gegenüberliegenden Zähnen. Dies wird durch die Ausbildung des Kiefergelenks als Schlittengelenk ermöglicht. Das Kiefergelenk der Kaninchen ist in der Lage, neben einer vertikalen Bewegung (Öffnen und Schließen der Maulhöhle, Beißen) auch eine horizontale Vorwärts- und Rückwärtsbewegung auszuführen (Kaubewegung, Zermahlen von Raufutter). Eine Seitwärtsbewegung ist ebenfalls eingeschränkt möglich, weshalb die typischen Kreisbewegungen beim Kauen ausgeführt werden. Die Abnutzung der Zähne ist im Normalfall genauso stark wie das Wachstum der Zähne. Durch dieses „Abschleifen“ behalten die Kaninchenzähne ihre physiologische Länge.

Häufige Zahnprobleme beim Kaninchen

Einige Zahnerkrankungen kommen bei Kaninchen besonders häufig vor. Die wesentlichen Erkrankungen in der Maulhöhle des Kaninchens sind:

  • Verkürzung des Oberkiefers
  • nachfolgend Verlängerung der Schneidezähne (Elefantenzähne)
  • fehlerhafte Abnutzung der zeitlebens nachwachsenden Backenzähne = Malokklusion (mit Bildung von Zahnspitzen-Spikes und Brückenbildung)
  • Stufenbiss, Wellenbiss
  • Abszessbildung („Backenabszesse“)
  • Symphysenfrakturen

Von den Ursachen der Veränderungen

Ein genetisch bedingter Vor- oder Rückbiss behindert den richtigen Reihenkontakt der Schneidezähne. Dadurch reiben sich die Zähne nicht richtig aneinander ab. Durch mangelhafte Zuchtwahl treten derartige Zahnfehlstellungen bei einigen Rassen gehäuft auf. Die genetisch bedingte Fehlstellung führt zu einem dauerhaft ungenügenden Abrieb der Schneidezähne. Im schlimmsten Fall entwickelt sich dann ein sogenannter Elefantenzahn.

Mahlende Zahnbewegungen haben vor allem bei den Backenzähnen eine große Bedeutung. Sie gewährleisten den physiologischen Zahnabrieb. Verminderte Kaubewegungen (auch gefördert durch ausschließliche Kraftfuttergabe) können zu einer Treppenbildung („Wellengebiss“) der Backenzähne führen. Diese ungleichmäßige Abnutzung der Backenzähne durch ungenügende mahlende Bewegungen der Kieferknochen führt zu vermindertem Abrieb, zur Ausbildung von Zahnspitzen, sogenannte „Spikes“ und zu unterschiedlichem Län genwachstum. Diese „Spikes“, wachsen im Unterkiefer meist zungenwärts und können wie ein Messer den Unterzungenbereich schädigen oder aufschlitzen. Im Oberkieferbereich sind die Spitzen in der Regel backenwärts gerichtet und verletzen die Backenschleimhaut.

Durch Fehlstellungen verändern sich zudem die Druckverhältnisse, denen die Zähne ausgesetzt sind. Es besteht die Gefahr, dass sie sich in den Zahnfächern lockern, so dass Keime eindringen und Infektionen verursachen können.

Das fortschreitende Wachstum der Backenzähne bei ungenügender Abnutzung kann sogar zu einem Wachstum und Verlängerung des im Kieferknochen befindlichen Zahnanteils führen. Manchmal durchbrechen die Zähne dann den der Maulhöhle entgegengesetzten Kieferrand. In der Folge kommt es zu chronischen Entzündungen im Kieferbereich mit Knochenzubildungen und Abszessbildung.

Diese Komplikationen lassen sich nur durch intensivste tierärztliche Behandlung ausheilen. Oftmals kommt es aber zu einem Fortschreiten der Erkrankung mit letztendlicher Todesfolge. Entgegen der landläufigen Meinung, dass harte Futtermittel wie trockene Brötchen oder harte Brotrinden und ausreichend Nagermaterialien eine Vorbeugung der fehlerhaften Abnutzung der Backenzähne (Malokklusion) bewirken, hat eine derartige Fütterung keinen durchschlagenden Effekt auf die Abnutzung der Backenzähne. Allein die Fütterung rohfaserreichen Futters mit gerin-er Energiedichte (gutes Heu, Grünfutter) und der damit verbundenen längeren Beschäftigung mit Aufnahme und Zerkauen des Futters begünstigt eine optimale Abnutzung der Backenzähne.

Klinische Symptome

Dem Besitzer fällt zunächst nur ein verändertes Fressverhalten des Kaninchens auf. Es kommt zur selektiven Futteraufnahme und zur Abkehr vom Futter nach anfänglichem Interesse. Man beobachtet veränderte Kaubewegungen bis zum Leerkauen. Es kann auch zur Verminderung oder plötzlicher Verweigerung der Futteraufnahme kommen. Erkrankungen der Schneidezähne fallen dem Besitzer in der Regel sofort ins Auge.

Es kann Speichelfluss auftreten bzw. es werden ein vermehrtes „Putzen“ der Tiere und Verklebungen im Kinnbereich und an den Vorderpfoten beobachtet. Oft kommt es zusätzlich zu Nasenausfluss, Bindehautentzündung und häufig auch zu chronischem Durchfall. Manchmal kann man auch Auftreibungen am Ober- und Unterkiefer ertasten. Durch einen zahnbedingten Abszess im hinteren Bereich der Augenhöhle kann das betroffene Auge im Vergleich zum anderen Auge mehr hervorstehen.

Das erkrankte Kaninchen ist Zusehens abgeschlagen; der fortschreitende Gewichtsverlust führt schließlich zur hochgradigen Abmagerung (Kachexie).

Gezielte Behandlung

Zur Wiederherstellung der Funktion verlängerter Schneidezähne müssen diese eingekürzt werden. Das Abkneifen der Schneidezähne mittels Seitenschneider (oft in der Praxis üblich) sollte vermieden werden, da es oft zum Splittern der Zähne bis in das Zahnfach kommt. Dies führt zu einer Entzündung im Zahnfach mit nachfolgender Abszessbildung. Komplikationslos erfolgt das Kürzen der Schneidezähne mittels Diamantschleifer oder Zahnbohrer. Dabei wird die Maulschleimhaut mittels Holzspatel oder Holzbleistift geschützt. Zu beachten ist aber auch, dass verlängerte Schneidezähne oft eine Folge von Veränderungen im Backenzahnbereich sind. Deshalb sollten die Backenzähne stets gleichzeitig mit kontrolliert und eventuell korrigiert werden.

Eine korrekte Untersuchung und Behandlung der Backenzähne ist nur bei ausreichender Narkose des Kaninchens möglich. Mit entsprechenden Instrumenten (Maul-und Wangenspreizer) wird das Maul geöffnet. Eventuelle Zahnspitzen und Stufen werden möglichst mit einem rotierenden Instrument behandelt. Es wird versucht, eine funktionelle Okklusion wiederherzustellen. Diese Behandlungen erfolgen in einer Tierarztpraxis. Oftmals müssen Zahnkorrekturen regelmäßig wiederholt werden.

Bei zunehmender Verkürzung des Behandlungsintervalls der Schneidezähne sowie bei zahnbedingten chronischen Entzündungen der Nase mit chronisch eitrigem Nasenausfluss und deutlicher Beeinträchtigung des Tiers usw. sollte eine Extraktion (Herausziehen) aller Schneidezähne vorgenommen werden. Bei entsprechender Fütterung können diese Kaninchen bei guter Lebensqualität weiterleben. Regelmäßig sollten die Backenzähne kontrolliert werden, um etwaige Probleme rechtzeitig zu erkennen und mögliche Fehlentwicklungen behandeln zu können.

Trotz aller Mühe und größter Sorgfalt erfreuen uns nicht alle „Zahnpatienten“ mit einer spontanen Futteraufnahme nach der Behandlung. Bei aussichtsloser Prognose und offensichtlichem Leiden des Tiers sollte das Kaninchen in diesen Fällen schmerzlos eingeschläfert werden.

Vorbeugemaßnahmen

Entscheidend für den Abrieb der Backenzähne ist das Schleifen der Zähne aufeinander. Als Konsequenz für eine korrekte Ernährung ergibt sich also, dass ein energiearmes und rohfaserreiches Futter verabreicht werden muss. Auf diesem Weg wird erreicht, dass das Tier zur Deckung seines Energiebedarfs große Mengen an Futter aufnehmen und auch zerkleinern muss.

Hauptbestandteile des Futters sollten Heu, Grünfutter und Gemüse sein. Die Struktur des Futters und der Rohfasergehalt sind hier von entscheidender Bedeutung. Durch die ständig mahlenden Bewegungen der Backenzähne wird der physiologische Zahnabrieb gefördert. Körnerfutter darf auch aus anderen Gründen nur als Beifutter dienen. Das Verfüttern von Zweigen (Weiden, alle Obstsorten von ungespritzten Beständen, Haselnuss u.a.) steigert die Beschäftigung der Zähne des Kaninchens. Diese Zweige werden von den Kaninchen sehr gerne aufgenommen.

Da kurzköpfige Rassen mit oft sehr kurzer Nase aufgrund ihrer Anatomie prädisponiert für Zahnerkrankungen sind, müssen hier züchterische Ansätze erfolgen, damit es in den nächsten Jahren nicht zum weiteren Anstieg von Zahnerkrankungen kommt. Leider werden gerade diese Kaninchen mit kindhaftem Gesichtsausdruck besonders von den Tierbesitzern bevorzugt. Kaninchen mit veränderter Zahnstellung sollten von der Zucht ausgeschlossen – und auch nicht verkauft (!) – werden.

Autor: Dr. Volker Ortmann

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